Wenn im Haus von Silvana da Silva Gonzaga Fußball läuft, springen sie und ihre Töchter vom Sofa und die Jungs sitzen still daneben. „Verdammt nochmal, lauf!“ ruft die eine, wenn die Seleção stürmt, und wenn ein Schuss daneben geht, wünscht die andere den Schützen zur Hölle. Hier haben die Frauen das Sagen und das Schreien. Die neunköpfige Familie verteilt sich über drei Sofas mit roten Decken, einen Flokati-Teppich auf gemusterten Fliesen und den Sessel, auf dem Ehemann Luiz thront.
Ihr Haus steht in Horizonte Azul, dem Stadtteil im Süden São Paulos, in dem auch Luciana wohnt. 30.000 Menschen leben hier in Favelahütten und Arbeiterhäusern. Mit seiner grauen Fassade und den Bananenstauden im Garten ist Silvanas Haus eine Ausnahme zwischen der Autowerkstatt, einer Bar und einem kleinen Friseursalon. In anderen Stadtteilen São Paulos würde es niemandem auffallen. Hier ist es ein kleines Schmuckstück. Doch für Silvana ist es mehr als das: Es ist die Erfüllung eines Traums, für den sie ein halbes Leben lang gekämpft hat:
Silvanas Geschichte ist die eines Lebens, das von einer Plastikplane in ein eigenes Haus geführt hat. Mit dieser Errungenschaft ist auch sie selbst eine Ausnahme unter den vielen Menschen, die wie Silvana vom Land in die Stadt gekommen sind. Es sind Familien aus der ärmsten Bevölkerungsschicht Brasiliens, die in die Städte ziehen, weil sie von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft nicht mehr leben können. Sie suchen ein besseres Leben und landen doch meistens in Not und Elend.
Als Luiz Inácio Lula da Silva vor elf Jahren zum Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, war sein oberstes Ziel, gerade diesen Menschen zu helfen. Er startete beispiellose Sozialprogramme wie Bolsa Família, bei dem Mütter direkte finanzielle Unterstützung erhalten unter der Voraussetzung, die Kinder zur Schule zu schicken und regelmäßig impfen zu lassen. 50 Millionen Menschen haben davon profitiert. Obwohl das Programm in der Umsetzung nach Meinung vieler Brasilianer auch negative Resultate hervorgebracht hat: Bolsa Família avancierte zum Exportschlager.
Auch Silvanas Familie hat diese Leistungen zeitweise erhalten. Doch es war nicht das Geld vom Staat, das ihren Traum möglich gemacht hat. Es war ihr unbedingter Wille und die Fähigkeit, niemals aufzugeben.
Silvana weiß, was Armut ist. Mit 13 Kindern und ohne Mann kommt ihre Mutter von Minas Gerais nach São Paulo, ohne zu wissen, wo sie wohnen sollten. In Jardim Ângela, zur damaligen Zeit eines der gefährlichsten Viertel der Welt, besetzt sie ein Stückchen Land und spannt eine Plastikplane über ein paar Äste. Die Tür ist eine Spanplatte. Morgens lässt die Mutter die Kinder allein, ohne Essen und ohne zu wissen, woher sie welches bekommen sollte. Auf dem Markt sammeln Silvana und ihre Geschwister tagsüber heruntergefallenes Obst und Gemüse und fischen abends Reste aus dem Müll. Wenn gar nichts mehr da ist, essen sie Klopapier, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Hunger prägt Silvanas Kindheit. Aufzuwachen und zu wissen, dass es nicht einmal ein Glas Wasser zum Trinken gibt, ist so demütigend, dass sogar ein Dieb mit ihnen Mitleid bekommt:
Die Nächte ihrer Kindheit verbringt sie auf dem nackten Boden. Als sie davon erzählt, sitzt sie auf dem Ehebett. Es ist das erste und einzige Bett, das sie jemals besessen hat. Gekauft hat sie es gemeinsam mit Luiz, als die beiden geheiratet haben. Da war sie neunzehn Jahre alt. Bis dahin hatte sie nicht einmal Flip-Flops an den Füßen.