Tag 13: Torlos in Horizonte Azul

Ein Mann sitzt allein in seinem abgedunkelten Supermarkt. Beim Friseur lässt sich eine Frau die Haare richten. In der Bar „São Francisco F.C.“ wartet der Besitzer einsam vor dem laufenden Fernseher. Die Busse sind so gut wie leer und wer auf den Straßen unterwegs ist, hetzt nach Hause, als herrsche Bombenalarm. Seit einer Viertelstunde läuft Brasilien gegen Mexiko.

Wir sind in Horizonte Azul gelandet. Einem Viertel tief im Süden der Stadt, wo einem um die nächste Kurve eine Kuh begegnen kann und in manchen Ecken die Häuser neben- und übereinander stehen wie zusammengeworfene Würfel. Um aus dem Zentrum hierhin zu kommen, braucht es drei Buslinien und zwei Stunden Fahrzeit – abends um zehn. Zur Rushhour kann die Tour gern drei Stunden dauern. Und viele der Menschen, die hier leben, nehmen sie täglich. Einmal hin, einmal zurück, sechs Stunden. So wie Tuca. Bei ihr, ihrer Freundin Paloma, deren Sohn Daví und ihren fünf Hunden haben wir für drei Nächte unsere Schlafsäcke ausgerollt. Den nächtlichen Straßenlärm im Zentrum haben wir eingetauscht gegen das Krähen von Hähnen mit Stimmbandentzündung.

Wir sind hierher gekommen, um mit den Bewohnern von Horizone Azul laufen zu gehen (hier wird mit bedecktem Oberkörper gerannt), um mit Paloma zu frühstücken (Tuca ist bereits seit sieben wieder aus dem Haus) und um eine Frau zu treffen, die Birte in ihrem Eintrag zum Start vor zwei Wochen erwähnt hat:

„Mein Traum war immer, einen Mann zum Heiraten zu finden und mir die Haare machen zu lassen“, erzählt die Köchin Silvana. „Heute habe ich meinen Mann, meine Kinder, aber immer noch nicht meine Haare gemacht.“ Wird sie sich jemals ihr Haar machen lassen können? Sie glaubt es nicht, dafür hat sie kein Geld. Aber sie ist glücklich und dankbar mit ihrem Mann und den sechs Kindern und einem kleinen Häuschen in einer Favela in São Paulo.“

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Aus dem Häuschen, in dem die Familie früher gelebt hat, ist inzwischen ein stattliches Haus mit zwei Stockwerken geworden. Darin hält Silvana heute den Acht-Mann-Betrieb in ihrer geräumigen weiß gekachtelten Küche am Laufen. Vielmehr: den Sechs-Frauen-und-zwei-Männer-Betrieb. Nebenan liegen ein Wohn- und ein Esszimmer und die Treppe neben dem Kühlschrank führt nach in den ersten Stock, wo die Kinder genauso ihre eigenen Räume haben wie Luis und Silvana. Sie hat uns so viel Bewegendes, Schönes, aber auch Trauriges erzählt, dass wir wieder einige Tage brauchen werden, um das viele Material zu bearbeiten.

Aber schon jetzt wollen wir Euch einen kurzen Eindruck davon vermitteln, wie ihre Stimme klingt, wenn Silvana davon erzählt, wie sie dieses Spiel erlebt hat:


„Mexico war sehr gut, aber Brasilien hat auch ziemlich viel gespielt. Es war sehr… Das ist Adrenalin, ne? Du willst, dass sie ein Tor schießen. Schießt ein Tor! Aber sie haben keins geschossen… Es war sehr gut, ein gutes Gefühl. Mit der Angst zu verlieren, ne… Marina, mach die Tür zu!“

Marina ist das jüngste der sechs Kinder. Die älteste Tochter ist 22 und es gibt bereits einen Enkel. Mit ihren 40 Jahren ist Silvana schon Großmutter. Während des Spiels saß der ganze Clan vor dem Fernseher. Vater Luis auf seinem Thron, der Rest verteilte sich auf dem Teppich und den Sofas. Sie schrieen und sie klatschten und als Thiago Silva den Kopfball kurz vor Schluss direkt auf den mexikanischen Torwart wuchtete, fingen sie an zu kreischen. Hat alles nichts geholfen. Nach dem Spiel dann, die Trauer war dank Silvanas rauchigem Lachen schnell aus dem Haus gejagt, bat Silvana Christian in die Küche. Wir haben gelernt, im Silvana-Stil Karotten zu schneiden und Knoblauch so lange zu dünsten, bis er die Farbe ihrer Haut annimmt. Dazu standen Wurst und Broccoli auf dem Herd (bei ständigem Rühren) und nach dem Essen gab es Kaffee. Gegangen sind wir um halbzehn.

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Was geschieht, wenn Brasilien vor dem Halbfinale aus diesem Turnier geht, wollen wir uns im Moment lieber nicht ausmalen. Dann wird nicht nur Silvana nicht mehr vor dem Fernseher kreischen. Es werden auch die gelb-grünen Girlanden verschwinden, die hier in Horizonte Azul über der Straße hängen, die Tröten und die brasilianischen Trikots, die an den Spieltagen der Seleçaõ ab morgens um acht durch die Straßen spazieren. Und dann wird sich auch sicher der Ärger wieder hochkochen, den die mit Anpfiff des Turniers aufgekommene Fußball-Begeisterung zur Zeit weit übertönt. Auch Silvana sagte uns: „Aus Brasilien wird immer nur das Schöne gezeigt. Aber es gibt hier auch sehr viel Hässliches.“

Sollte dagegen alles anders kommen und Brasilien es genauso ins Finale schaffen wie Deutschland, haben wir allerdings auch keine guten Nachrichten. Gestern haben wir auf der Playstation von Márcio, dem Bruder von Tuca im Haus gleich nebenan, das Spiel vorgespielt. 1:0 Neymar in der ersten Halbzeit, drückende Überlegenheit der Deutschen in der zweiten, Klose-Kopfball gegen die Latte, Konter, 2:0, Fred. Aber wenigstens sangen die Fans im Hintergrund “Oh, wie ist das schön.” In der brasilianischen Version.