Tag 26: In der Zwischenschicht

Die Teller mit den Resten von Tomatensauce und Pesto stehen noch auf dem Tisch, als Ivan Vilela hinter sich in seine Schatzkiste greift. Eine Flasche nach der anderen holt er heraus, hält sie hoch und trägt Namen wie „Mãe ca Filha“ oder „Sassafraz“ vor, als priese er seine teuersten Schmuckstücke auf einer Versteigerung an. Es sind ein Aguardente irgendwo aus Brasilien und Cachaçaspezialitäten aus Minas Gerais. Seine Frau Gabriela serviert Espresso und ihren selbstgemachten Pudim, eine brasilianische Variante von Crème Brûlée. Ivan schenkt ein, sagt „Saúde“, nimmt einen kleinen Schluck und strahlt. Ein kleines bisschen Tradition aus seiner Heimat, von der in seinem Leben in São Paulo so viel verloren gegangen ist.

Mit seiner Frau, seiner Tochter und seinen beiden Söhnen bewohnt der 51-Jährige ein Apartment in Butantã im Nordwesten von São Paulo. Bevor man an ihrer Tür ankommt, muss man sich beim Pförtner anmelden, zwei Eisentüren passieren, wobei sich die zweite erst öffnet, wenn die erste wieder ins Schloss gefallen ist. Dann über den Innenhof mit den Rasenflächen und gelblicher Beleuchtung, durch die Eingangshalle, die wirkt wie eine Hotellobby. Der Fahrstuhl bringt einen direkt vor die Tür. In einem „Condomínio Fechado“ („Geschlossene Wohnanlage“) zu leben, können sich Ivan und Gabriela leisten, weil er Musiker und Professor für brasilianische Popularmusik an der Universität São Paulo und sie Lehrerin ist. Für viele Brasilianer mag eine solche Wohnung erstrebenswert sein. Für Ivan ist sie Ausdruck einer Krankheit, die die brasilianische Gesellschaft befallen hat. Und er hat es sich zur Aufgabe gemacht, dagegen anzukämpfen. Und zwar so:

Die kranke brasilianische Gesellschaft ist für Ivan ein Lebensthema und die Musik der Viola die heilende Arznei. Damit ist er landesweit bekannt. Über das Instrument und seine Bedeutung für die brasilianische Kultur hat er ein Buch geschrieben. Im vergangenen Herbst hat er es auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Um zu verstehen, warum er der kleinen Schwester der Gitarre, deren Wurzeln im 13. Jahrhundert liegen, so viel Wert beimisst, muss man begreifen, woran die Gesellschaft nach seiner Analyse erkrankt ist. Seine Diagnose lautet Identitätsverlust und Entwurzelung. Der Krankheitsverlauf hat drei Stadien.

Eine eigene volkstümliche Kultur Brasiliens bildete sich im 18. und 19. Jahrhunderts. Die regierende Elite war allerdings mehr daran interessiert, was von außen in das Land kam, und registrierte so nichts von dem, was in ihrem Volk geschah. Als zum Ende des 19. Jahrhunderts das Königreich in eine Republik überging, veränderten die Ideale, die vor allem aus Frankreich importiert wurden, das brasilianische Verständnis von Fortschritt. Mündliche Erzählungen verloren gegenüber wissenschaftlich belegbaren Quellen an Bedeutung. Die Eliten aus Kirche und Staat erklärten alles Volkstümliche zur unerwünschten Kultur. So entstand ein Bruch zwischen dem gelehrten und dem traditionellen Wissen, das von da an als rückständig galt.

In der dritten Etappe prallte eine entwurzelte und geistig wehrlose Gesellschaft auf den aufkommenden Neoliberalismus der achtziger Jahre. Brasilien wurde mit den Versprechungen eines auf Konsum gründenden Lebens infiziert. Die sozialen Unterschiede wuchsen rapide an. Und das, was die brasilianische Gesellschaft einst so einzigartig gemacht hatte – dass sich die unterschiedlichsten kulturellen Einflüsse in einem großen Kessel miteinander vermischten –, verlor zunehmend an Bedeutung. Die Menschen erinnerten sich nicht mehr an ihre Traditionen und verloren den Kontakt zueinander:

Auch seine Familie ist von diesem Bruch unmittelbar betroffen. Davon profitieren sie genauso wie sie darunter zu leiden haben. Die Vilelas sind ein typisches Beispiel für eine brasilianische Mittelschichtsfamilie. Sie schickt ihre Kinder auf Privatschulen und hat die Möglichkeit, es sich zuhause schön zu machen. Im Wohnzimmer mit den Ledersofas läuft leise Musik aus großen Boxen. Ein Flachbildschirm steht im Wandregal zwischen Büchern, CDs und DVDs. An den Wänden hängen gerahmte Bilder. Auf ihren Macbooks sehen sich die Kinder Websites von Fotografen und Youtube-Videos von Pelé und Maradona an. Das ist die schöne Seite.