Tag 30: Und dann weint David Luiz

Dies ist kein Tag für Triumphgeheul, auch wenn wir mit unserer Tränenprognose Recht behalten haben. Dafür war der Abend zu surreal. Unsere Bilder von einem Fanfest in Tijuca, das vor allem Einheimische besuchten. Irgendwann fühlten wir uns, als wollten wir auf einer Beerdigung tanzen – und haben es gelassen.

Und am Tag danach:

Der Himmel grau wie Blei. Das an Schnüren aufgehängte Fußballfirmament aus gelb-grünen Girlanden, das sich nur mühsam gegen das Grau abzusetzen vermag, versetzt ein beständiger Wind in stabile Seitenlage. Um uns herum wird es immer leiser. Dann fängt es an zu tröpfeln. Wenn es einen Fußballgott gibt, dann offenbar auch eine Art Fußball-Mephisto. Es passt nichts an diesem Abend für Brasilien. Nada. Nicht nur im Stadion in Belo Horizonte, sondern auch bei uns auf dem kleineren Fanfest in Rio de Janeiro.

Nach dem 0:1 sind die Leute erschrocken. Nach dem 0:2 entsetzt. Ab dem 0:3 erstarrt. Beim sechsten Tor fangen die ersten an zu jubeln. Beim siebten schreien sie, als habe Brasilien das entscheidende 1:0 geschossen. Brasilien kann an diesem Abend nicht gewinnen. Aber die Brasilianer können verlieren, zumindest die um uns herum. Spätestens nach dem fünften ist es uns egal, dass die brasilianische Menge hört, wenn wir rufen „Vai Alemanha!“ und „Der Neuer ist einfach gut!“ Wir handeln uns keinen Ärger ein, sondern Glückwünsche und am Schluss tanzt ein Pärchen Samba.

Andernorts geht es weniger beschwingt zu. An der Copacpaba überfällt eine 50-köpfige Gruppe systematisch das Fest der Fifa. In São Paulo brennen bereits kurz nach Spielende Busse, insgesamt über 20. Läden werden überfallen und auf den Straßen herrscht Chaos. Neymar, wo warst du, um das Volk zu retten?

Der Fußball entfacht ein Feuer, aber es ist nicht mehr das gleiche wie vor diesem Spiel. Am Freitag hatten wir noch gedacht, es sei das Größte, ein solches Spiel mitzuerleben, Deutschland gegen Brasilien, Halbfinale, hier vor Ort. Heute denken wir das immer noch. Nicht aber, weil es ein großes Fußballspiel gegeben hätte. Sondern, weil wir einen surrealen Abend erlebt haben. Inmitten von Einheimischen zu stehen, die gerade den schlimmsten Tag ihres Fanlebens ertragen müssen, war, als seien wir die Einzigen mit Sauerstoffflaschen auf dem Mond. Es war nicht nur eine Niederlage. Es war das Ende der Illusion, dass diese WM tatsächlich etwas würde verändern können in diesem Land. Nichts kann diese WM, nicht hier, nicht so. Eine Veranstaltung mit diesen Ausmaßen in einem Land, an dem es so sehr an Grundlegendem mangelt – es ist die größtvorstellbare Unmoral.

Und so hat es diese Niederlage, die nicht knapp war, unverdient oder ungerecht, auch ihr Gutes. Wir haben oft gehört, dass es das Schlimmste sei für Brasilien, wenn die Brasilianer mit dem WM-Titel im Kopf im Herbst wählen gehen. Und nichts kann dieses Land gerade weniger brauchen als Brasilianer, die zur Urne torkeln. Maria Ana, die reizende Frau Japp, bei der wir gerade wohnen, sagte: „Es ist doch typisch. Die Brasilianer verlassen sich darauf, dass es einer schon richten wird. Und wenn der ausfällt, bricht alles zusammen.“

Und wir? Bewegen uns in dem Zwiespalt, diese WM, die der Wind von Tijuca gestern abgeblasen hat, einerseits verdammen zu müssen und andererseits das Finale nicht verpassen zu wollen. Der Ort, an den wir davor zu flüchten versuchen, ist das Stadion von Maracanã. Wir brauchen nur noch drei Tickets. Jemand einen Tipp?