Tag 5: Das Gift des Geldes

Wir sind noch keine Woche hier, aber wir haben bereits erlebt, wovon die Menschen hier sagen, dass dies der einzige Weg sei, um zur Seele Brasiliens vorzudringen. Sich treiben lassen, nicht allzu viel planen und sich überraschen lassen, wer als Nächstes um die Ecke biegt. So trifft man Menschen, die man nicht suchen, sondern nur finden kann.

Ausgangspunkt unseres Weges, der uns am Ende in das Haus von Reinaldo José dos Santos und Ivete Silva de Jesus führt, ist die Probe des Kammerorchesters des Sozialprojekts „Monte Azul“ in der Favela gleichen Namens. Das versucht sich, als wir eintreffen, an „Eleanor Rigby“, und weil unsere Anwesenheit deutlich hörbar auf die Stimmung drückt…

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…machen wir uns bald auf den Weg, um durch die Favela zu streunen. Und plötzlich stehen Reinaldo und Ivete vor uns. Ivete ist die Schwester von Natália, bei der wir am Abend zuvor zum Suppeessen eingeladen gewesen waren. Auch die beiden saßen mit uns am Lagerfeuer.

Es ist nicht so, dass wir uns anschließend selbst einladen würden. Es ist vielmehr so, dass es keine andere vorstellbare Möglichkeit gibt als ihrer Einladung auf eine Tasse Tee zu folgen. Was wir in den folgenden Stunden hören und sehen, macht das, was seit Monaten aus Brasilien in die Welt geht, auf eindrückliche Weise greif- und fühlbar. Mindestens acht Milliarden Euro wird Brasilien für diese Weltmeisterschaft ausgegeben haben, doch hier, in der Peripherie von São Paulo weit im Süden, sitzt ein Paar und fragt sich, was nur geschehen ist: Brasilien hat genug Geld für Stadien, die bald niemand mehr brauchen wird, aber nicht genug für eine vernünftige Schulausbildung seiner Kinder:

Ivete und Reinaldo stammen beide aus dem Bundesstaat Minas Gerais, doch das Leben musste erst einige Umwege nehmen, um die beiden einander zuzuführen. Schon als sie ihn zum ersten Mal gesehen habe, erzählt Ivete, habe sie geseufzt. Ein Mann mit Geheimnissen und festen Prinzipien – so einen wollte sie haben. Doch Reinaldo behielt seine Geheimnisse lange für sich. In den zehn Jahren, in denen sie auf ihn warten musste, gab sie ihn irgendwann auf und ließ sich auf einen Mann ein, mit dem ein Sohn entstand, aber keine Beziehung. Erst als seine Schwester mit ihrem Bruder zusammenkam, trafen sie sich und beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen:

Ivete und Reinaldo sind in einer Zeit und in einer Gegend groß geworden, da noch universelle Werte galten. Respekt, Religiosität und ein ökonomisches Verständnis, das einen lehrt, selbst zu produzieren, was man zum Leben braucht, Nahrung, Spielzeug, egal was. In ihren Berufen, er als Erzieher, sie als Lehrerin, versuchen sie, diese Werte auch anderen Kinder zu vermitteln. Im Wohnzimmer hängen deshalb Ketten mit bemalten Eiern. Die haben sie mit ihrem Sohn gebastelt, weil sie ihm zeigen wollen, dass ein Ei mehr liefern kann als Eiweiß.

Weil sie aus eigener Erfahrung wissen, wie miserabel es um das brasilianische Bildungssystem steht, ermöglichen sie ihrem Sohn eine teure Ausbildung. Ihr Sohn Rodrigo geht auf eine Waldorfschule. An den Kosten, die seine Ausbildung verschlingt, sieht man, was in Brasilien im Moment vor sich geht. Das monatliche Netto-Einkommen der Familie liegt bei knapp 2000 Reais, das sind etwa 670 Euro. Die Schule kostet 2300 Reais. 1500 davon sind gedeckt, durch ein Teilstipendium der Schule und Unterstützer unter anderem aus Deutschland. Doch 760 Reais müssen sie selbst tragen, dazu noch einmal etwa 200 Reais für den täglichen Bedarf. Knapp die Hälfte ihres Einkommens wenden sie dafür auf, dass Rodrigo ein besseres Leben wird führen können als sie selbst es haben.

Die Gebühren für eine Schule, die leistet, wofür der Staat sich nicht in der Lage sieht, berauben eine Familie ihres finanziellen Handlungsspielraums – eindrucksvoller lässt sich kaum illustrieren, wie die Strukturen eines Landes Menschen aussaugen, die nicht zu den Gewinnern gehören.

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Dass es so weit kommen konnte, erklärt sich Reinaldo damit, dass die Werte, mit denen er groß geworden ist, irgendwo verloren gegangen sind auf dem Weg Brasiliens von einem Entwicklungsland zu einer Industrienation: „Evolution bedeutet für mich: Ich entwickle mich, aber ich blicke zurück. Geht’s dem Zurückgebliebenen gut, entwickelt auch er sich auf diesem Weg?“ In Brasilien aber sei dieses Bewusstsein verschwunden. „Ein Verstand muss gut vorbereitet sein, wenn man beginnt, mit Geld umzugehen. Sonst wird er schwach und einer lernt vom anderen, korrupt zu sein.“ Es ist gleichermaßen inspirierend wie irritierend, Reinaldo und Ivete an diesem Abend zuzuhören. Wie anders stünde ihr Land da, wenn Menschen wie sie am Ruder säßen. Doch in São Paulo haben eher Menschen das Sagen, die solche Prinzipien mit den Rotoren der Helikopter wegwischen, mit denen sie abends von ihren Büros in ihre Luxus-Apartments fliegen.

Ivete macht nicht den Eindruck einer unglücklichen Frau. Mit Reinaldo und Rodrigo, der oben in seinem Zimmer vor einem gespendeten Computer sitzt und seine Zeit mit Facebook verbringt, hat sie ihr persönliches Glück gefunden. Und sie hat eine Herzlichkeit in sich, der man sich weder entziehen kann noch möchte. Und dennoch muss sie lang überlegen, bevor sie auf die Frage antwortet, ob sie ihr Leben mag:

Nichts gibt es hier in Monte Azul, was ihr ein Gefühl von Heimat geben könnte. Nie fühlt sie sich sicher, wenn sie das Haus verlässt. Nie geborgen und in Ruhe. Und alles nur wegen des Geldes, das sie braucht, um ein Leben zu finanzieren, das diesen Zustand verstetigt. Und als wir sie fragen, ob das Geld, das sie in São Paulo verdient, all die Entbehrungen wettmachen kann, reagiert sie so:

Das Gespräch mit Kamera und Aufnahmegerät ist schon lang zu Ende, als wir immer noch in ihrem Wohnzimmer sitzen. Wir trinken nicht nur Tee, sondern essen auch selbst gebackenes Brot und Käse. Zu unserer nächsten Verabredung kommen wir zwei Stunden zu spät. Aber das ist es uns wert, an diesem Abend, an dem wir in Berührung gekommen sind mit der brasilianischen Seele.